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text:nordirland_22

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text:nordirland_22 [2022/09/20 09:29]
admin [4: Der Süden und das Pub]
text:nordirland_22 [2024/03/22 08:39] (aktuell)
admin [2: Die Trennung]
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-====== Eine Reise nach Nordirland ======+Zu den [[:logbuch|Reiseberichten]]
  
 +[[text:nordirland_22|{{:logbuch:flag:deutschland.png?nolink&60|deutsch}}]] [[text:nordirland_22:nordirland_22_en|{{:logbuch:flag:flag_of_the_united_kingdom.svg.png?nolink&30|english}}]] 
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 +====== 2022: Eine Reise nach Nordirland ======
 +//**( 11.- 17. September 2022)**//\\
 ===== 1: am Gate in Frankfurt ===== ===== 1: am Gate in Frankfurt =====
  
 //**(2022-09-11, Frankfurt Flughafen)**//\\ //**(2022-09-11, Frankfurt Flughafen)**//\\
  
-{{:logbuch:47d33da6-602b-4695-8c58-2ea515c6b15b.jpeg?nolink&400|Frankfurt Airport}}+{{ :logbuch:47d33da6-602b-4695-8c58-2ea515c6b15b.jpeg?nolink&400 |Frankfurt Airport}}
  
 Ich bin wieder einmal am Gate des Flughafens Frankfurt, wieder einmal in der stillen Zeit, in der die gewohnte Umgebung meiner Heimat schon schwindet, aber das Fremde des Reiseziels noch nicht betreten ist. Ich bin wieder einmal am Gate des Flughafens Frankfurt, wieder einmal in der stillen Zeit, in der die gewohnte Umgebung meiner Heimat schon schwindet, aber das Fremde des Reiseziels noch nicht betreten ist.
-Wie den Besuch in Marseille 2018 empfinde ich eine Reise nach Nordirland als ein Komplettieren meiner Perspektive. Irland. So vertraut, irgendwie - doch ist seit meinem letzten Besuch viel Zeit vergangen, viele Ereignisse über uns hinweg gezogen. Auch jetzt sind wir in den Strudeln und Strömungen grosser Umbrüche.+Wie den Besuch in [[https://spark.adobe.com/page/H34KJCgGbU2aF/|Marseille 2018]] empfinde ich eine Reise nach Nordirland als ein Komplettieren meiner Perspektive. Irland. So vertraut, irgendwie - doch ist seit meinem letzten Besuch viel Zeit vergangen, viele Ereignisse über uns hinweg gezogen. Auch jetzt sind wir in den Strudeln und Strömungen grosser Umbrüche.
  
 In Nordirland war ich noch nie - plötzlich nun liegt dieser Teil der irischen Insel ausserhalb der EU. Ich bin gespannt darauf, zu hören, was das vor Ort bedeutet. Und ich bin gespannt darauf, von dort aus meinen Blick zurück auf den „Osten des Westens“ zu richten, dabei auch auf den Krieg in der Ukraine und auf das Schicksal dessen, was ich als die europäische Idee empfinde. In Nordirland war ich noch nie - plötzlich nun liegt dieser Teil der irischen Insel ausserhalb der EU. Ich bin gespannt darauf, zu hören, was das vor Ort bedeutet. Und ich bin gespannt darauf, von dort aus meinen Blick zurück auf den „Osten des Westens“ zu richten, dabei auch auf den Krieg in der Ukraine und auf das Schicksal dessen, was ich als die europäische Idee empfinde.
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 Ich hatte nicht erwartet, die Gesellschaft hier in Nordirland in einer so offensichtlichen und ausschließlichen Trennung vorzufinden. Schon - mit schwärenden Verletzungen, lebendigen Erinnerungen an den Hass und die Trauer, damit hatte ich gerechnet. Aber nicht mit getrennten Schulen, einer ausgesetzten Regierung und abgeriegelten Wohnvierteln. Ich hatte nicht erwartet, die Gesellschaft hier in Nordirland in einer so offensichtlichen und ausschließlichen Trennung vorzufinden. Schon - mit schwärenden Verletzungen, lebendigen Erinnerungen an den Hass und die Trauer, damit hatte ich gerechnet. Aber nicht mit getrennten Schulen, einer ausgesetzten Regierung und abgeriegelten Wohnvierteln.
  
-In Waterfoot ganz im Norden der irischen Insel landete der englische König Henry 1171 mit einer Invasionsarmee an. Die Herrschaft der Engländer blieb aber lange nur oberflächlich, eigentlich nur auf die Gegend um Dublin bezogen. Bis zu Zeiten Elisabeths I die „Plantation“ beschlossen wurde, die großangelegte „Anpflanzung“ von Siedlern aus dem Königreich, mit ihrer Lebensweise. „Verdiente“ irische Familien, die diese Lebenweise übernahmen, durften am Katzentisch dieser Kolonialisierung Platz nehmen - die anderen waren weitgehend recht- und besitzlos.+In Waterford ganz im Norden der irischen Insel landete der englische König Henry 1171 mit einer Invasionsarmee an. Die Herrschaft der Engländer blieb aber lange nur oberflächlich, eigentlich nur auf die Gegend um Dublin bezogen. Bis zu Zeiten Elisabeths I die „Plantation“ beschlossen wurde, die großangelegte „Anpflanzung“ von Siedlern aus dem Königreich, mit ihrer Lebensweise. „Verdiente“ irische Familien, die diese Lebenweise übernahmen, durften am Katzentisch dieser Kolonialisierung Platz nehmen - die anderen waren weitgehend recht- und besitzlos.
  
 Erwartung und Hoffnung der englischen Seite war, dass die irische Zivilisation nach und nach verlöschen würde. Das geschah aber bis heute nicht. Es gab historische Momente, in denen stattdessen eine Vermischung möglich schien, eine neue, vereinte irische Identität. 1798, im Zuge der bürgerlich liberalen Revolutionen, führte Theobald Wolfe Tone einen gemeinsamen Aufstand. Zu Beginn des 20sten Jahrhunderts gab es die Erwartung, dass es eine gemeinsame Republik Irland geben würde, unabhängig von England. Das wurde 1921 vollzogen, aber nicht komplett. Die Insel wurde politisch geteilt, und im heutigen Nordirland stehen sich die Erben der alten Getrenntheit ratlos und wütend im Gefühl einer gegenseitigen Belagerung gegenüber.  Erwartung und Hoffnung der englischen Seite war, dass die irische Zivilisation nach und nach verlöschen würde. Das geschah aber bis heute nicht. Es gab historische Momente, in denen stattdessen eine Vermischung möglich schien, eine neue, vereinte irische Identität. 1798, im Zuge der bürgerlich liberalen Revolutionen, führte Theobald Wolfe Tone einen gemeinsamen Aufstand. Zu Beginn des 20sten Jahrhunderts gab es die Erwartung, dass es eine gemeinsame Republik Irland geben würde, unabhängig von England. Das wurde 1921 vollzogen, aber nicht komplett. Die Insel wurde politisch geteilt, und im heutigen Nordirland stehen sich die Erben der alten Getrenntheit ratlos und wütend im Gefühl einer gegenseitigen Belagerung gegenüber. 
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 Ich frage um Rat, weil ich beobachte, wie die Parteien im Ukrainekrieg sich gegenseitig dämonisieren und entmenschlichen. Nicht „Armee gegen Armee“, sondern „Volk gegen Volk“. Wie kommt man davon wieder weg? „Das haben wir nie getan“ sagt John. „Wir wurden dämonisiert und wie Tiere behandelt, aber wir haben immer nur gegen Uniformen gekämpft, nicht gegen Menschen.“ Ich frage um Rat, weil ich beobachte, wie die Parteien im Ukrainekrieg sich gegenseitig dämonisieren und entmenschlichen. Nicht „Armee gegen Armee“, sondern „Volk gegen Volk“. Wie kommt man davon wieder weg? „Das haben wir nie getan“ sagt John. „Wir wurden dämonisiert und wie Tiere behandelt, aber wir haben immer nur gegen Uniformen gekämpft, nicht gegen Menschen.“
  
-Es ist wieder einer dieser Momente, an denen ich mich innerlich zur Hoffnung aufrufen muss. Und ich weiß nicht, was ich Krysia sagen soll.+Es ist wieder einer dieser Momente, an denen ich mich innerlich zur Hoffnung aufrufen muss. Und ich weiß nicht, was ich der ukrainischen Freundin sagen soll.
  
 ===== 4: Der Süden und das Pub ===== ===== 4: Der Süden und das Pub =====
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 Es ist der Burgfrieden des Nordirland-Protokolls zwischen UK und EU, den die Demokratische Unionistische Partei (DUP) zuerst mitgetragen hat. Die Vorteile für Nordirland liegen auf der Hand: als einzige Region hat Nordirland freien Zugang zu beiden Binnenmärkten. Warum die DUP sich entschieden hat, nun mit radikalen politischen Methoden dagegen anzukämpfen, wird mir nicht ganz klar. Ich würde es gerne von einer Vertreter*in dieser Partei erklärt bekommen. Die DUP ist im Februar aus der Regierung ausgetreten, bis das Nordirland-Protokoll abgeschafft oder nachverhandelt wird. Es soll keine Grenze mehr geben zwischen Nordirland und dem Vereinigten Königreich UK, auch wenn diese Grenze nur in der Warenkontrolle des Güterverkehrs besteht. Die „Loyalists“, eine fundamentalistische Strömung innerhalb der Unionisten lehnen diese Distanzierung von Großbritannien ab, sehen dadurch ihre Identität als Teil des britischen Empire gefährdet. Und (so erklärt man uns) die DUP meint, es sich nicht leisten zu können, diese Rechten unter den Rechten zu verprellen. Deswegen haben sie die Verwaltung des Landes in einen Dornröschenschlaf gelegt. Es ist der Burgfrieden des Nordirland-Protokolls zwischen UK und EU, den die Demokratische Unionistische Partei (DUP) zuerst mitgetragen hat. Die Vorteile für Nordirland liegen auf der Hand: als einzige Region hat Nordirland freien Zugang zu beiden Binnenmärkten. Warum die DUP sich entschieden hat, nun mit radikalen politischen Methoden dagegen anzukämpfen, wird mir nicht ganz klar. Ich würde es gerne von einer Vertreter*in dieser Partei erklärt bekommen. Die DUP ist im Februar aus der Regierung ausgetreten, bis das Nordirland-Protokoll abgeschafft oder nachverhandelt wird. Es soll keine Grenze mehr geben zwischen Nordirland und dem Vereinigten Königreich UK, auch wenn diese Grenze nur in der Warenkontrolle des Güterverkehrs besteht. Die „Loyalists“, eine fundamentalistische Strömung innerhalb der Unionisten lehnen diese Distanzierung von Großbritannien ab, sehen dadurch ihre Identität als Teil des britischen Empire gefährdet. Und (so erklärt man uns) die DUP meint, es sich nicht leisten zu können, diese Rechten unter den Rechten zu verprellen. Deswegen haben sie die Verwaltung des Landes in einen Dornröschenschlaf gelegt.
  
-Das Land wird zwar weiterhin verwaltet, aber nur mit schon gefällten Beschlüssen. Kein neues Problem kann angegangen werden, auf keine neue Situation kann reagiert werden. Denn das Karfreitags-Abkommen legt fest: die größte nationalistische Partei (derzeit Sinn Fein) und die größte unionistischen Partei (derzeit DUP) müssen alles gemeinsam unterzeichnen. Alles, jeden kleinsten Regierungsbeschluß. Und die DUP verweigert das seit einem halben Jahr komplett. Was, neben vielem anderen, dazu führt, dass 400 Millionen Euro, die Nordirland für Hilfsmaßnahmen zur Linderung der Not der Bevölkerung zur Verfügung stehen, nicht ausgezahlt werden können. +Das Land wird zwar weiterhin verwaltet, aber nur mit schon gefällten Beschlüssen. Kein neues Problem kann angegangen werden, auf keine neue Situation kann reagiert werden. Denn das Karfreitags-Abkommen legt fest: die größte nationalistische Partei (derzeit Sinn Fein) und die größte unionistischen Partei (derzeit DUP) müssen alles gemeinsam unterzeichnen. Alles, jeden kleinsten Regierungsbeschluß. Und die DUP verweigert das seit einem halben Jahr komplett. Was, neben vielem anderen, dazu führt, dass 400 Millionen Pfund, die Nordirland für Hilfsmaßnahmen zur Linderung der Not der Bevölkerung zur Verfügung stehen, nicht ausgezahlt werden können. 
  
 Es erscheint mir so verrückt, dass ich vermute: es muss noch irgend einen Grund dafür geben. Irgendein Kalkül der DUP, das uns die vielen Republikaner, mit denen wir sprechen, nicht nahe bringen. Und noch einmal bedaure ich, dass wir keinen Vertreter dieser Partei treffen werden. Es erscheint mir so verrückt, dass ich vermute: es muss noch irgend einen Grund dafür geben. Irgendein Kalkül der DUP, das uns die vielen Republikaner, mit denen wir sprechen, nicht nahe bringen. Und noch einmal bedaure ich, dass wir keinen Vertreter dieser Partei treffen werden.
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 //**(2022-09-16, Belfast, Hotel)**//\\ //**(2022-09-16, Belfast, Hotel)**//\\
  
-{{:logbuch:europahotel.jpg?nolink&400|Europahotel}}+{{ :logbuch:europahotel.jpg?nolink&500 |Europahotel}}
  
 Das Europahotel in Belfast ist das am meisten zerbombte in Irland. So hören wir mehrfach, wie etwas, auf das man stolz ist. Während der „Troubles“, (den Unruhen oder dem Bürgerkrieg zwischen 1960 und 1998) verwandelte sich die Stadt in eine von Mauern durchzogene Fleckenlandschaft abgetrennter Wohngebiete und Einflusssphären. Man führt Buch: in dieser Kneipe gab es so viele Mordopfer, in jener Straße so viele. Paramilitärs bekriegten sich, die Militär- und Polizeistationen wurden zu gegen Raketen gesicherten Festungen. Es sah aus, wie die Bilder von den Grenzen zwischen Israel und Palästina. Das Europahotel in Belfast ist das am meisten zerbombte in Irland. So hören wir mehrfach, wie etwas, auf das man stolz ist. Während der „Troubles“, (den Unruhen oder dem Bürgerkrieg zwischen 1960 und 1998) verwandelte sich die Stadt in eine von Mauern durchzogene Fleckenlandschaft abgetrennter Wohngebiete und Einflusssphären. Man führt Buch: in dieser Kneipe gab es so viele Mordopfer, in jener Straße so viele. Paramilitärs bekriegten sich, die Militär- und Polizeistationen wurden zu gegen Raketen gesicherten Festungen. Es sah aus, wie die Bilder von den Grenzen zwischen Israel und Palästina.
  
-{{:logbuch:friedensmauer-01.jpg?nolink&400|Friedensmauer}}+{{ :logbuch:friedensmauer-01.jpg?nolink&400 |Friedensmauer}}
  
  
 So sieht es noch immer aus. Die Mauern verschwinden nur langsam, wenn überhaupt. Aber sie sind alt inzwischen. Die Geschichten um sie herum sind alt. Zwar kommen immer wieder neue dazu, Geschichten von Aufruhr und Aufmärschen, aber es gibt schon länger keine Toten mehr in diesen Geschichten und kaum noch Bomben.  So sieht es noch immer aus. Die Mauern verschwinden nur langsam, wenn überhaupt. Aber sie sind alt inzwischen. Die Geschichten um sie herum sind alt. Zwar kommen immer wieder neue dazu, Geschichten von Aufruhr und Aufmärschen, aber es gibt schon länger keine Toten mehr in diesen Geschichten und kaum noch Bomben. 
  
-Die heutige Polizei ist nicht mehr Partei in den Auseinandersetzungen, sondern wird demokratisch kontrolliert. So sagen uns Pat und Sean von der Partei Sinn Fein. Beide sind Veteranen der IRA, Pat war 18 Jahre, im Gefängnis 55 Tage davon im Hungerstreik, an dessen Ende er 40 Kilo wog, fast blind war, die Haut gelb wegen einer versagenden Leber. Heute ist er „Whip“ (parlamentarischer Geschäftsführer) der Sinn Fein Fraktion im nordirischen Parlament. Ein weiter Weg. Sean hat für die IRA 1998 die Übergabe der Waffen verhandelt, auch er war im Gefängnis und im Hungerstreik, aber das erfahren wir erst später. Heute arbeitet er Vollzeit für Sinn Fein und ist ehrenamtlich in dem Büro für soziale Stadtteil-Arbeit beschäftigt, in dem wir uns treffen.+Die heutige Polizei ist nicht mehr Partei in den Auseinandersetzungen, sondern wird demokratisch kontrolliert. So sagen uns Pat und Sean von der Partei Sinn Fein. Beide sind Veteranen der IRA, Pat war 18 Jahre, im Gefängnis55 Tage davon im Hungerstreik, an dessen Ende er 40 Kilo wog, fast blind war, die Haut gelb wegen einer versagenden Leber. Heute ist er „Whip“ (parlamentarischer Geschäftsführer) der Sinn Fein Fraktion im nordirischen Parlament. Ein weiter Weg. Sean hat für die IRA 1998 die Übergabe der Waffen verhandelt, auch er war im Gefängnis und im Hungerstreik, aber das erfahren wir erst später. Heute arbeitet er Vollzeit für Sinn Fein und ist ehrenamtlich in dem Büro für soziale Stadtteil-Arbeit beschäftigt, in dem wir uns treffen.
  
 Sind das die abgehobenen Politiker, denen die einfachen Anhänger der irischen Einheit nicht mehr vertrauen können? Ich habe den Eindruck nicht. Ich sehe zwei vernünftige und selbstbewusste Gestalter einer geeinten irischen Gesellschaft, an die sie glauben - und von der sie glauben, dass sie spätestens in 10 Jahren erreicht sein wird. Man müsse sich noch wappnen gegen die politischen Winkelzüge von Unionisten und britischer Regierung, sagen sie. Man müsse ein Volks-Referendum gut vorbereiten und nicht zu schnell machen, die Sache brauche noch Entwicklungszeit. Aber schon schwänden die Ängste der Unionisten vor der Vereinigung mit der Republik Irland und es steige der allgemeine Zuspruch. Die irische Einheit würde kommen, die Gewalt in Irland würde trotzdem nicht wieder aufflammen, so sagen die beiden. Sinn Fein, die schon jetzt als gemeinsame Partei für ganz Irland aufträte, würde bald zuerst beide Teile Irlands anführen und dann auch die Einheit. Ich möchte es glauben, erinnere aber wie ein warnendes Flüstern die Stimmen aus Derry. Tom, John und auch David. Ich sage mir, man muss vorsichtig sein bei Politikern. Sie können sehr überzeugend sein, unabhängig davon, ob ihre Darstellungen der Wirklichkeit entsprechen.  Sind das die abgehobenen Politiker, denen die einfachen Anhänger der irischen Einheit nicht mehr vertrauen können? Ich habe den Eindruck nicht. Ich sehe zwei vernünftige und selbstbewusste Gestalter einer geeinten irischen Gesellschaft, an die sie glauben - und von der sie glauben, dass sie spätestens in 10 Jahren erreicht sein wird. Man müsse sich noch wappnen gegen die politischen Winkelzüge von Unionisten und britischer Regierung, sagen sie. Man müsse ein Volks-Referendum gut vorbereiten und nicht zu schnell machen, die Sache brauche noch Entwicklungszeit. Aber schon schwänden die Ängste der Unionisten vor der Vereinigung mit der Republik Irland und es steige der allgemeine Zuspruch. Die irische Einheit würde kommen, die Gewalt in Irland würde trotzdem nicht wieder aufflammen, so sagen die beiden. Sinn Fein, die schon jetzt als gemeinsame Partei für ganz Irland aufträte, würde bald zuerst beide Teile Irlands anführen und dann auch die Einheit. Ich möchte es glauben, erinnere aber wie ein warnendes Flüstern die Stimmen aus Derry. Tom, John und auch David. Ich sage mir, man muss vorsichtig sein bei Politikern. Sie können sehr überzeugend sein, unabhängig davon, ob ihre Darstellungen der Wirklichkeit entsprechen. 
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 Das klang bei Tom, dem republikanischen IRA-Veteran am Anfang der Reise, ganz anders. Für ihn sorgen „wir“ für Ordnung und wenn ein Jugendlicher auf die schiefe Bahn gerät, hat er erst einmal mit „uns“ zu tun.  Das klang bei Tom, dem republikanischen IRA-Veteran am Anfang der Reise, ganz anders. Für ihn sorgen „wir“ für Ordnung und wenn ein Jugendlicher auf die schiefe Bahn gerät, hat er erst einmal mit „uns“ zu tun. 
  
-{{:logbuch:freederry-02.jpg?nolink&400|Free Derry}}+{{ :logbuch:freederry-02.jpg?nolink&600 |Free Derry}}
  
 Auch Vernon hat nicht viel übrig für die Polizei. Ihre Aufgabe wäre, Recht und Ordnung durchzusetzen, stattdessen verhalten sie sich wie Sozialarbeiter. Vernon fühlt sich nicht (mehr) beschützt. Er trauert gerade um die verstorbene Queen. Im Radio seines Taxis läuft ein Bericht: die unionistische Gemeinde in Nordirland fragt sich, ob man nach dem Tod der Queen einfach so mit dem Leben, wie man es vorher geführt hat weiter machen kann.  Auch Vernon hat nicht viel übrig für die Polizei. Ihre Aufgabe wäre, Recht und Ordnung durchzusetzen, stattdessen verhalten sie sich wie Sozialarbeiter. Vernon fühlt sich nicht (mehr) beschützt. Er trauert gerade um die verstorbene Queen. Im Radio seines Taxis läuft ein Bericht: die unionistische Gemeinde in Nordirland fragt sich, ob man nach dem Tod der Queen einfach so mit dem Leben, wie man es vorher geführt hat weiter machen kann. 
  
-{{:logbuch:queen.jpg?nolink&400|Queen}}+{{ :logbuch:queen.jpg?nolink&600 |Queen}}
  
 Ein katholischer Taxifahrer in Derry hatte zum Tod der Queen gesagt: "wen interessiert’s?"  Ein katholischer Taxifahrer in Derry hatte zum Tod der Queen gesagt: "wen interessiert’s?" 
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 Im Gespräch mit Vernon fühle ich, wie ich das Nordirland unserer Reisegruppe und Gesprächspartner*innen verlasse und ein ganz anderes Nordirland betrete. Man sieht sich hier, ohne jeden Zweifel, als einen Landesteil des Vereinigten Königreiches. Hier sind Engländer*innen zu Hause! Kürzlich kam einer dieser „Engländer“ zurück von einem Besuch in London und durfte am Flughafen keine Dutyfree-Einkäufe machen. Die andern englischen Leute durften, er aber nicht, wegen des Nordirland-Protokolls. Das sei nur eines der vielen, unter den Unionisten vieldiskutierten Beispiele für die übergriffigen Konsequenzen dieses Protokolls. Vernon steht voll hinter der Entscheidung der DUP, die Regierungsarbeit solange zu boykottieren, bis das Protokoll weg ist. One way or the other. Im Gespräch mit Vernon fühle ich, wie ich das Nordirland unserer Reisegruppe und Gesprächspartner*innen verlasse und ein ganz anderes Nordirland betrete. Man sieht sich hier, ohne jeden Zweifel, als einen Landesteil des Vereinigten Königreiches. Hier sind Engländer*innen zu Hause! Kürzlich kam einer dieser „Engländer“ zurück von einem Besuch in London und durfte am Flughafen keine Dutyfree-Einkäufe machen. Die andern englischen Leute durften, er aber nicht, wegen des Nordirland-Protokolls. Das sei nur eines der vielen, unter den Unionisten vieldiskutierten Beispiele für die übergriffigen Konsequenzen dieses Protokolls. Vernon steht voll hinter der Entscheidung der DUP, die Regierungsarbeit solange zu boykottieren, bis das Protokoll weg ist. One way or the other.
  
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-===== 7: Der Osten des Westens=====+===== 7: Der Osten des Westens =====
  
 //**(2022-09-17, Heathrow nach Frankfurt)**//\\ //**(2022-09-17, Heathrow nach Frankfurt)**//\\
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 Nun will ich zu meinen Ausgangsfragen zurück kehren und zum Osten des Westens. Nun will ich zu meinen Ausgangsfragen zurück kehren und zum Osten des Westens.
  
-{{:logbuch:shankill-08.jpg?nolink&400|Shankillroad}}+{{ :logbuch:shankill-08.jpg?nolink&400 |Shankillroad}}
  
 2018 in Marseille habe ich gesehen, wie die Idee einer europäischen Vereinigung sich von einer mitreißenden Vision hin zu einer der Randbedingungen des alltäglichen Lebens entwickelt hatte. Eine Eigenschaft der Wirklichkeit, die jeder und jede nach seinen und ihren Interessen versucht, für sich auszunutzen. Auch dann, wenn man dabei vielleicht persönlich alten Schwärmereien nachtrauert. 2018 in Marseille habe ich gesehen, wie die Idee einer europäischen Vereinigung sich von einer mitreißenden Vision hin zu einer der Randbedingungen des alltäglichen Lebens entwickelt hatte. Eine Eigenschaft der Wirklichkeit, die jeder und jede nach seinen und ihren Interessen versucht, für sich auszunutzen. Auch dann, wenn man dabei vielleicht persönlich alten Schwärmereien nachtrauert.
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 Der Osten des Westens erinnert den Westen des Westens dieser Tage an den Wert der Freiheit. Lassen wir uns davon aufrütteln und mitreißen! Der Osten des Westens erinnert den Westen des Westens dieser Tage an den Wert der Freiheit. Lassen wir uns davon aufrütteln und mitreißen!
  
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text/nordirland_22.1663658945.txt.gz · Zuletzt geändert: 2022/09/20 09:29 von admin