Einige Überlegungen zum Urheberrecht
(Betrachtungen am Wegesrand auf der Reise in das virtuelle Leben)
Wir Menschen verwenden in unserem Leben vieles, das wir nicht selbst erfunden haben. Eigentlich verwenden wir selten etwas, das wirklich nur von uns ist. Vielleicht so gut wie nie.
Sprache, Kleidung, Werkzeug, kulturelle Regeln, die vielen Symbole und Metaphern in denen wir denken oder miteinander kommunizieren - all diese Dinge haben lange Entwicklungen hinter sich. Das, was wir konkret verwenden und nach außen bringen, tritt an die Oberfläche der Wahrnehmung wie die Spitze eines Eisberges, von dem nicht sechs Siebtel, sondern 99% und mehr verborgen bleiben. Unterhalb der Oberfläche kopieren wir und setzen, mehr oder weniger neu, alles wieder zusammen. Aus dieser Wechselwirkung formt sich, in einem Durcheinander von bewusst und unbewusst, das „Ich„.
Eine der großen Erfindungen in der Menschheitsgeschichte ist das Prinzip der Arbeitsteilung. Jemand macht etwas, das ein anderer braucht und umgekehrt. Dann wird getauscht. Um das zu verallgemeinern haben wir eine Abstraktion erfunden, das Geld, als Potenzialraum für das unbeschränkte Tauschen.
Auch Ideen und geistige Produkte haben wir in die Tauschwelt des Geldes eingefügt. Auch wenn sie von ihrem Wesen her multiplizierbar sind und eigentlich keinen Tauschwert haben, wie zum Beispiel die Audio-Datei eines Musikstückes. Deswegen ist die Schöpfung von virtuellen Werten heute durch Urheberrechte geschützt. Die Erfindung neuer Dinge, auch wenn sie ressourcenfrei kopierbar wären, soll den Urheber*innen Zugang zur allgemeinen Tauschwelt geben, sie sollen Geld damit verdienen können.
Aber was ist mit dem Kopieren, dem Wiederholen und dem Neuzusammensetzen bei der Bildung des Ichs? Solange das nur innerlich stattfindet, privat bleibt und nicht öffentlich wird, ist dieser Bereich von den Kopierverboten der Urheberrechte ausgenommen. Die Gedanken sind frei, könnte man sagen.
Bei der Reise in das virtuelle Leben stehen wir hier in einem Dilemma: die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen haben sich grundsätzlich verändert. Beides überlappt sich oft, oder verschwimmt vollständig ineinander. In Deutschland denken wir traditionell viel über die daraus folgende Bedrohung der Privatsphäre nach, über die Gefahren des „gläsernen Bürgers“.
Es gibt aber auch die Bedrohung der öffentlichen Sphäre durch das Private, etwa wenn die Bildung des Ichs zunehmend öffentlich stattfindet und dabei Urheber*innen ihrer geschützten Inhalte beraubt werden. Ein Beispiel: ein Kind singt ein Lied, das es im Radio gehört hat. Jemand, vielleicht auch das Kind selbst, nimmt dabei ein Video auf und stellt das Video online.
Was sollen wir nun tun? Sollen wir den Schutz der Urheberrechte aufheben, damit die kindliche Entwicklung nicht gehemmt wird? Oder sollen wir versuchen, das Private virtuell vom Öffentlichen wieder zu trennen und das Erstellen und Teilen von Informationen verbieten? Oder sollen wir diese Art von „Bildung des Ichs“ zu etwas Illegalem erklären und versuchen, nur noch lizenzfreie Bewusstseinsinhalte zu erlauben?
Ich glaube, alle drei Wege sind ungangbar und das ist die Tiefe dieses Dilemmas. Ich vermute, wir werden letztendlich sehr weit zurück gehen müssen in der Entwicklungsgeschichte der Ideen von „Arbeitsteilung“, „Tausch“ und „Wertschöpfung“. Dort müssen wir, um das Virtuelle als wirkliche Menschen besiedeln zu lernen, neue grundlegende Wege finden.
Stefan Budian, Mainz, 4. Mai 2020