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Stimme: Senioren und ihre Erfahrungen
„Ich habe Narva verändert gesehen“
Ich heiße Ivan, ich bin 75 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt in Narva. Ich habe gesehen, wie sich die Stadt verändert hat – vom Rauch der Fabriken bis zu den leeren Fenstern vieler Häuser.
Früher war Narva eine Stadt der Arbeit. Im Kraftwerk, in der Textilfabrik „Kreenholm“, überall war Bewegung, Geräusch, Stolz. Wir hatten wenig, aber wir hatten einander. Nach der Schicht traf man sich im Hof, half beim Einkaufen, trank Tee auf der Bank. Heute ist vieles davon verschwunden.
Nach der Unabhängigkeit Estlands kam ein neues Leben – für manche besser, für andere schwerer. Viele meiner Freunde verloren die Arbeit, weil die Fabriken schlossen. Wir mussten Estnisch lernen, neue Dokumente beantragen, neue Regeln verstehen. Ich verstehe das Land, in dem ich lebe, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass es mich nicht versteht.
Meine Kinder sind fort. Der eine in Tallinn, die Tochter in Finnland. Ich bin froh, dass sie Arbeit haben – aber manchmal, wenn ich am Fluss entlanggehe, höre ich nur noch das Wasser und den Wind, nicht mehr die Stimmen der Nachbarn. Narva wird älter. Fast jeder Dritte hier ist über sechzig. In vielen Häusern brennt nur noch ein Licht.
Trotzdem bleibe ich. Ich kenne jeden Stein dieser Stadt. Ich habe die alten Mauern gesehen, die im Krieg zerstört wurden, und die neuen Straßen, die nach Europa führen sollen. Aber ich frage mich: Wer geht diese Straßen entlang, wenn die Jungen fort sind?
Manchmal komme ich an der Schule vorbei. Die Kinder sprechen Estnisch auf dem Hof – das ist gut. Aber ich höre auch Russisch, leise, fast wie ein Geheimnis. Und ich denke: Vielleicht ist das Narva – nicht das eine oder das andere, sondern das Dazwischen, das bleibt.
Ich wünsche mir, dass jemand zuhört. Nicht um Mitleid zu haben, sondern um zu verstehen, dass wir hier nicht zwischen zwei Ländern, sondern zwischen zwei Zeiten leben. Ich will nicht, dass Narva vergessen wird. Denn Narva ist mein Zuhause – und auch, wenn es sich verändert, bin ich noch hier.
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Hinweis: Basierend auf Recherchen zu Altersstruktur, Migration und Erinnerungskultur in Narva 2022–2025 (ERR News, OSCE, FPRI, Tartu University). Fiktiv verdichtet in Zusammenarbeit mit KI (Euras / Noyan, 2025).