Benutzer-Werkzeuge

Webseiten-Werkzeuge


resonanzraeume:resonanzraum_25-012

Dies ist eine alte Version des Dokuments!


Zur Übersicht “Resonanzräume der Usien“
<< vorheriges | nächstes >>

deutsch  english polski azerbaycan

AserbaidschanFetter Text

Zimmer 12a – Gäbe es nicht die dunkle Nacht (Aysel)

In der Stille nach der Hymne
Südlich von Şəki, auf einem flachen Hügel, steht ein Haus, das nach Mandeln duftet. Die Fensterläden sind schief, aber nicht kaputt. Hier lebt Aysel, 64 Jahre alt, allein. Früher war sie Musiklehrerin. Jetzt stimmt sie ihre Stimme nur noch selten. Manchmal, wenn niemand zuhört, summt sie die alte Hymne von 1919 – nicht aus Patriotismus, sondern weil sie den Rhythmus nicht vergessen kann. „Es war wie ein Kleid, das wir nur kurz tragen durften“, sagt sie über die Republik, die keine drei Jahre hielt. „Und dann war es plötzlich wieder Winter.“ Ihr Mann starb 1990, beim Versuch, Lebensmittel in der Hauptstadt zu besorgen. Ihre Tochter arbeitet heute in Istanbul. Sie schreibt selten, aber regelmäßig. Es sind kurze, formelhafte Nachrichten, in denen keine Fragen stehen. Nur Zustände. An der Wand hängt ein gerahmter Vers von Hüseyn Cavid:

“Qaranlıq gecələr olmasaydı, Sözləri oxşayan ulduzlar bunca sevilməzdı.”
„Gäbe es nicht die dunklen Nächte, würden die Worte liebkosenden Sterne weniger geliebt.“

Aysel glaubt, dass Cavid nicht an Sterne dachte, sondern an das, was zwischen den Worten bleibt. Die stille Würde. Manchmal geht sie bis zum Rand des Dorfs, wo der Blick sich in die Berge verliert. Dort glaubt sie, den Tag zu erkennen, an dem alles aufhörte, sich wie Zukunft anzufühlen. Und dort beginnt sie, den Tag zu erkennen, an dem etwas Neues geboren wurde, das kein Lied hatte, keine Fahne, keine Parole – nur das Bedürfnis, sich nicht mehr fremd zu sein im eigenen Land. Sie sagt: „Ich habe aufgehört, auf ein Zeichen zu warten. Jetzt höre ich auf die Zwischenräume. Sie sagen: Du warst da. Und du bist noch da.“

resonanz_25-012

Zimmer 12b – Gäbe es nicht die dunkle Nacht (Zəhra)

Das Haus an der Bahnlinie
In einem kleinen Haus bei Gəncə, nahe den Bahngleisen, lebt eine Frau namens Zəhra. Ihr Name bedeutet „Blüte“, aber ihre Stimme ist über die Jahre leiser geworden. Sie war noch ein Teenager, als die Sowjetunion zerfiel. Am Morgen nach der Unabhängigkeit, erinnert sie sich, war es draußen zu still. Als hielte die Welt den Atem an. Ihr Vater hatte in Karabach gekämpft. Ihr Onkel war nach Sibirien deportiert worden. Die Familie sprach nicht mehr über Politik. Zu gefährlich, zu hoffnungslos, zu spät. Sie hielten ihre Hände beschäftigt und ihre Münder geschlossen. Der Strom funktionierte manchmal. Im Radio lief ausländische Musik. Sie lernte, zwischen den Zeilen zu hören. Heute ist Zəhra 47. Sie unterrichtet Literatur an einer nahegelegenen Schule. Noch immer erinnert sie sich an ein Gedicht von Hüseyn Cavid: „Gäbe es nicht die dunkle Nacht, würden die Sterne, die die Augen erfreuen, weniger geliebt.“ Manchmal liest sie es ihren Schülern vor. Und sie fragen: „Wer war er?“ Und sie sagt: „Einer, der glaubte, dass man ein Land erträumen muss – nicht nur ausrufen.“ Manchmal geht sie bis an den Rand der Gleise. Züge fahren selten vorbei. Sie lauscht dem Schweigen nach dem Wind. Und einmal, sagte sie, glaubte sie, den Tag benennen zu können, an dem alles aufhörte, sich wie Zukunft anzufühlen. Welcher Tag das war, hat sie nicht gesagt.


Zur Übersicht “Resonanzräume der Usien“